Buchvorstellung: Astrid Bartel, „Das Mädchen von der Quelle“,
hora-Verlag Hermannstadt, 2005



Zur Autorin:
Astrid Bartel, geboren im letzten Kriegsjahr in Hermannstadt als einziges Kind des Arztes Dr. Gross; aufgewachsen in der Hechtgasse, heute Dr. Lupaş.
Sie besuchte die Ursulinen- und dann die Brukenthalschule. Nach der Matura studierte sie zwei Jahre lang in Temeswar, dann kam die Ausreise.
1965 zog sie mit ihren Eltern nach Köln, wo sie Germanistik und Geographie studierte und Jürgen Bartel als Assistenten an der Fakultät für Geographie kennen lernte.
Sie heirateten und zogen, bedingt durch seinen Beruf, 1975 nach Berlin, wo ihre vier Söhne aufwuchsen.
1976 hat sie noch einmal Rumänien besucht, dann nicht mehr, bis jetzt. Sie ist aber, wie sie versichert, Hermannstädterin geblieben.
Nach der Wende hat Astrid Bartel in Berlin als Übersetzerin und Dolmetscherin für Rumänisch gearbeitet und ist bei der Polizei, im Gefängnis und vor Gericht wiederholt rumänischen Zigeunern begegnet, mit denen die deutschen Behörden aus sprachlichen, aber auch aus Mentalitätsgründen oft nicht zurecht kamen. Dabei kamen bei ihr Erinnerungen hoch, Geschichten aus ihrer Kindheit, die sie einfach aufschreiben musste.


Das Buch

Unter dem schönen Titel „Zigeuner auf meinem Wege“ hat sich Astrid Bartel an verschiedenste Geschichten von und mit Zigeunern erinnert und sie aufgeschrieben mit einer Freude am Erzählen, die man jeder Geschichte auf`s Neue anfühlt. Leider ist der ursprüngliche Titel der political corectness zum Opfer gefallen, was die Autorin am Anfang des Buches in einem kurzen Text, der einer Vorbemerkung gleichkommt, sachlich erklärt. Dass schon die Verwendung des Wortes „Zigeuner“ Diskriminierung bedeute, erscheint uns hier in Siebenbürgen immer noch nicht ganz nachvollziehbar – ich erlaube mir an dieser Stelle im Namen derer zu sprechen, die ich für die Mehrheit halte – zumal angesichts eines Buches wie diesem, das die Zigeuner eindeutig in ein positives Licht rückt. So verwende ich, wie auch Astrid Bartel, im Folgenden den uns geläufigen Begriff. Das Buch heißt aber nun „Das Mädchen von der Quelle“, was der Titel einer der Geschichten ist und auch recht poetisch klingt.

Lose aneinander gereiht folgt Erzählung auf Erzählung, jede in sich abgeschlossen und dann doch mit den anderen verbunden durch die Thematik und die Erzählerin, ein anfangs zehnjähriges Mädchen, das im Laufe des Buches zur Erwachsenen wird. In einer Geschichte kehrt sie dann, nach langjähriger Abwesenheit, in die Stadt ihrer Kindheit zurück und in den letzten drei Texten begegnet sie den Zigeunern ihrer Heimat im fernen Berlin der 90er Jahre wieder. Die meisten Geschichten aber erzählen Erlebnisse aus ihrer Heimatstadt in den 50er und 60er Jahren authentisch vor dem Hintergrund von erlittenem Unrecht, Meinungsunfreiheit, „Einquartierungen“, Lebensmittel-Rationierung und der beginnenden Auswanderungswelle – Phänomenen also, die alle, die im bunten siebenbürgischen Völkergemisch zusammen leben, betreffen. Aber in jedem Text kristallisiert sich eine Zigeunerfigur heraus, es geht um deren Geschichte; die Erzählerin tritt fast ganz zurück, die Geschichte entwickelt ihr Eigenleben und nimmt meistens eine unerwartete, oft wunderbare Wendung.
Neugierig, manchmal auch wagemutig, überschreitet die Heranwachsende die vom bürgerlichen Elternhaus und der kleinstädtischen Umgebung gezogenen Grenzen, wenn sie mit dem Zigeunerjungen auf der Straße mit einem Stöckchen Figuren in den Sand malt und dabei feststellt, wie viel sie beide – entgegen aller pauschalen Aussagen der Erwachsenen – gemeinsam haben; oder wenn sie sich mit der gleichaltrigen Mirela, die einer Wanderzigeunerfamilie angehört, heimlich in einem verwilderten Garten trifft und die beiden im hohen Gras liegend ihren Mädchenträumen nachhängen. Durch die Begegnung mit Zigeunern lernt sie im Kontrast zwischen den Schönen, Wohlhabenden, Gebildeten und den Armen, in jeder Hinsicht Benachteiligten die Ungerechtigkeit des Lebens kennen; gefühlsmäßig stellt sie sich auch auf die Seite des Zigeuners, der sich zu dem enteigneten Gutsbesitzer bekennt, im Gegensatz zu dem kommunistisch eingestellten Nachbarn, der den „Ausbeuter“ beschimpft und verleumdet. Im erschütternden Schicksal des Glasers, das ihr der alte Zigeuner erzählt, lernt sie das Böse kennen, das Menschen einander antun können, und das politisch bedingte Schweigen darüber. Auch der Zigeuner hat nichts dagegen getan, aber er sagte das rechte Wort zur rechten Zeit.

Vorurteile werden zurecht gerückt, z. B. jenes, dass Zigeuner stehlen: Der bei der Familie der Erzählerin in den 50er Jahren einquartierte Coldea geht nur an die Vorräte in der Speisekammer, wenn er Hunger hat; ansonsten fehlt der Familie in all den Wochen und Monaten, in denen sie die Wohnung mit ihm teilen müssen, nichts. Oder es wird unser Bild, dass Zigeuner ungebildet seien, zwar dadurch bestärkt, dass die Erzählerin immer wieder feststellen muss, dass diejenigen, denen sie begegnet, nicht lesen und schreiben können; der Sohn des alten Kesselflickers Claudiu aber bringt es auf wunderbare Weise bis zum Polizeioberst. Und auch die gemeinhin angenommene Gewaltbereitschaft der Zigeuner wird relativiert: Der Zigeunervater, der seinen beim Diebstahl erwischten Sohn von der Polizei abholen soll, gibt ihm nur eine übermäßige Ohrfeige, um ihn und sich und den ganzen Clan zu schützen, indem er Empörung über eine solche Tat vortäuscht. Nachher erkundigt er sich besorgt und liebevoll nach dem Wohlbefinden des Kindes, das seinerseits Verständnis für die Handlungsweise des Vaters zeigt.
Die Zigeuner dieses Buches pflegen intensive zwischenmenschliche Beziehungen, sind pragmatische Lebenskünstler mit einem natürlichen Gespür für das Richtige und Wahre und haben vor allem ihre ganz eigene Kultur. Diese ist fremdartig, widersetzt sich den gängigen gesellschaftlichen Normen und wird gerade dadurch besonders interessant – nicht nur für die Halbwüchsige, aus deren Perspektive die Geschichten erzählt werden. Zigeuner verkörpern unser aller Sehnsucht nach Freiheit und sie haben natürlich das großartige Talent der Musik. Wenn wir uns in ihre Welt hineinwagen, begegnen wir den durch die Zivilisation oft verschütteten ureigensten Wünschen und Bedürfnissen. Die Musik verändert das Leben des ´Geigerich` von Grund auf und durch sie beschenkt er auch seine Wohltäterinnen.
Ist das nur Zigeunerromantik? Ja und nein. Diese schöne Vorstellung vom höheren Wert des Müßigganges ist uns zumindest seit Lenaus Gedicht „Die drei Zigeuner“ oder seit Brahms´ „Zigeunerliedern“ bekannt und sie wird in unserem Buch in einem Gespräch zwischen Lyzeanern und Zigeunern kritisch beleuchtet. Die Protagonisten dieser Geschichten zeigen dagegen eher realistische Züge, sie stehen mit beiden Füßen auf dieser Erde und nehmen uns doch mit in andere Welten.
So entspricht auch die gute Wendung in der Geschichte „Der Zwerg“, in der der Zigeunerjunge in Berlin den gestohlenen Gartenzwerg an seinen angestammten Platz zurückstellt, einerseits laut Aussage der Autorin voll und ganz der Wahrheit; andererseits aber vermittelt diese Erzählung, wie die gesamte Auswahl der Geschichten des Buches ein einseitig positives Bild. Auch dessen ist sich Astrid Bartel bewusst. Sie will, so lautet ihre Erklärung, die schönen Seiten dieser fremdartigen, rätselhaften, für sie so faszinierenden Menschen festhalten und weitergeben. Damit schafft sie ein Gegengewicht zu dem hier wie in Deutschland verbreiteten Bild vom Zigeuner.


Gertrud Braisch,
Hermannstadt, 9. Dezember 2005