Buchvorstellung
“Der halbierte Stalin. Hermannstädter
Geschichten“
(Erasmus-Büchercafé, 18. März
2007)
Einführung:
Astrid Bartel, dem Hermannstädter
Leser-Publikum bekannt durch ihr 2005 im Hora-Verlag
erschienenes Buch „Das Mädchen von der Quelle“,
in dem sie den Zigeuner-Geschichten ihrer Kindheit
nachgeht, ist heute wieder bei uns um aus ihrem neuen Band
von Erinnerungsgeschichten vorzulesen – einem
mindestens so schön gestalteten Buch, in dem unser aller
geliebtes Hermannstadt selbst im Zentrum steht. Wie der
Titel erahnen lässt, handelt es sich um die Widerspiegelung
der wirren und oft undurchsichtigen politischen
Verhältnisse der 50er und beginnenden 60er Jahre des
vorigen Jahrhunderts, die aber nicht vordergründig
thematisiert werden, sondern bloß den Hintergrund des
wiedergegebenen Alltagsgeschehens darstellen.
Die Nachgeborenen bekommen Einblick in eine sehr schwierige
und düstere Zeit, die ihnen recht fern liegt, hier aber in
bunten Bildern mit zum Teil skurrilen Figuren und grotesken
Geschichten lebendig wird. Für die Generation der Autorin
und die Älteren wird das Buch sicher Auslöser für eigenes
Erinnern sein. Ich meine, dass seine stimulierende Kraft
auf Gedächtnis bzw. Phantasie des Lesers aber sicher auch
beim nicht-siebenbürgischen Publikum Wirkung haben wird.
Der bundesdeutsche ortsunkundige Leser bekommt also ein
authentisches Bild der fernen Stadt vermittelt, die heuer
europäische Kulturhauptstadt ist; der noch etwas jüngere
Hermannstädter findet ihm Vertrautes in weit entfernten
Zeitumständen wieder; die Erlebnisgeneration aber mag sich
selbst und ihre Erinnerungswelt darin entdecken.
Wir hören Astrid Bartel mit einem Ausschnitt aus der
Erzählung „Unser Sanitätskreis“:
(…)
Literaturkritische Anmerkungen:
Der Erzählungsband
enthält 16 in sich abgeschlossene Geschichten, die nur lose
miteinander verknüpft sind, und einen Einleitungstext.
„Es begann mit dem Abschied“ heißt dieser und
meint das Erinnern, das Erinnern begann, als die
Ich-Erzählerin, und das ist zweifellos die Autorin selbst,
1965 als 20-Jährige im leer geräumten Elternhaus in der
Hechtgasse (heute Dr. Lupaş) steht, auf Kinder- und
Jugendjahre zurückblickt und weiß, dass sie einmal darüber
erzählen wird. In diesem Haus ist sie aufgewachsen mit der
Familie der Edithtante zusammen, hier hat der Vater seine
gynäkologische Praxis in all den politischen Wirren der
50er Jahre behalten können, von hier aus ist sie in die
Grundschule (das ehemalige Ursulinenkloster) und später
auf´s Gymnasium (die Brukenthalschule, die in dieser Zeit
Liceul nr. 2 heißt) gegangen.
Das Erinnern geht aber weiter nach der Übersiedlung, zum
Beispiel im ICE von Köln nach Berlin, als plötzlich eine
bekannte Hermannstädter Aussprache an ihr Ohr dringt, am
Frankfurter Flughafen, als sie von einem ehemaligen
Temeswarer Kommilitonen, an den sie sich zunächst gar nicht
erinnern kann, wieder erkannt wird. Es geht auch weiter bei
den Schreien der Wildgänse hinter ihrem Berliner Garten,
die an das tragische Ende einer besonderen Hermannstädterin
erinnern, und natürlich beim 20-jährigen Abiturtreffen. Und
es geht bis in die Gegenwart hinein: Die mittlerweile
60-Jährige erkennt am Ende des Buches in der Elisabethgasse
(heute 9 Mai) ein ihr einst vertrautes Haus am Knarren des
Hoftores wieder und findet Erstaunliches über seine
Bewohner, die ihr teilweise ebenfalls von früher bekannt
sind, heraus.
Während die Ich-Perspektive einheitlich ist, sind Zeit- und
Ortsstruktur recht komplex. Die Heranwachsende befindet
sich in den einzelnen Geschichten in unterschiedlichen
Entwicklungsstufen, teilweise tritt, wie oben gezeigt, auch
die Erwachsene als Sich-Erinnernde zwischen sie und den
Leser. Zudem trägt die Anordnung der Geschichten nicht dem
chronologischen Prinzip Rechnung und hinzu kommen
plötzliche, manchmal sprunghafte Ortswechsel. Die Autorin
will – nach eigener Aussage – bewusst
schlaglichtartig mal diesen, mal jenen Aspekt des
gesellschaftspolitischen Umfeldes und persönlichen Erlebens
beleuchten. Wie soll sich der Leser da orientieren?
Der Hauptschauplatz bleibt Hermannstadt. Am Anfang oder
Ende einer Geschichte befindet man sich manchmal auch in
der Bundesrepublik Deutschland vor oder nach der Wende;
vereinzelt gibt es dann noch andere Orte, die zur
Erlebniswelt der Hermannstädterin gehören, wie etwa die
Hohe Rinne, ein Dorf an der Kokel und sogar die Krim, die
bei einer Kreuzfahrt über das Schwarze Meer im
sozialistischen Bruderland besucht wird. In jeder
Geschichte wieder die Erzählsituation mit den Koordinaten
Ort, Zeit und dementsprechender Reife der Erzählerfigur
klar zu stellen, ist eine Herausforderung, der die Autorin
ideenreich nachgekommen ist.
Manchmal wird man am Anfang einer Geschichte auf den Ort
hingewiesen (z.B. in „Eine schwere Geburt“ ist
es der ICE in Deutschland), allerdings weiß z.B. in
„Eine Hermannstädterin“ nur der eingeweihte
Leser des vorherigen Bandes, dass es sich bei dem Ort der
Gerichtsverhandlung um Berlin in den 90er Jahren handeln
muss, weil damals Astrid Bartel als Dolmetscherin für
Rumänisch dort gearbeitet hat. Wenn solche Angaben aber
fehlen, ist man bis zur ersten Nennung des Alters der
Ich-Erzählerin oder anderen Zeitangabe oft gespannt, wann
(und evtl. wo) das nun genau einzuordnen ist.
Diese Frage erscheint nicht zuletzt wegen des
zeitgeschichtlichen Hintergrundes wichtig. Damit stellt
sich ein weiteres Problem für die Autorin: Wie viele
Informationen über das politische Auf und Ab dieser Zeit
muss und soll sie dem Leser geben, zumal es, wie eingangs
gezeigt, sehr unterschiedliche Leserkreise geben kann?
Kommentare stören natürlich den Erzählfluss und womöglich
sind die Erklärungen für den einen oder die andere auch
noch überflüssig. So entschied sie sich für ein Minimum,
z.B. in dem knappen Absatz am Ende der Titelgeschichte
„Der halbierte Stalin“, in dem sie die
Geschichte des Stalinismus in Rumänien kurz umreißt. Ein
Nachschlagewerk über die sozialpolitischen Ereignisse der
Zeit zwischen dem Tod Stalins, dem Ungarnaufstand, dem
Schriftstellerprozess und der Verhaftungswelle der späten
50er Jahre, dem Ende der Ära Gheorghe Gheorghiu Dej und dem
Beginn der Ceauşescu-Zeit wäre meines Erachtens bei
der Lektüre des Buches hilfreich, um neben der menschlichen
Dimension die Geschichten auch sozialpolitisch und
historisch zu vertiefen.
In einer Geschichte, nämlich „Der Tag vor dem 23.
August“, mit der der Band beginnt, hat Astrid Bartel
das Problem sehr geschickt gelöst, indem sie eine Freundin
aus Hamburg zu Besuch kommen lässt, sie heißt Klara, und
ihr müssen gewisse Dinge in dem Hermannstadt um 1960
erklärt werden, die auch dem Leser vermittelt werden
sollen.
Abschließend
Aus dem Zusammenspiel der Geschichten
entsteht ein umfassendes und differenziertes Bild dieser
Zeit. Da die Ich-Erzählerin sehr neugierig ist, tritt sie
oft als Horcherin auf, die gewollt oder ungewollt eine
Menge aufschnappt von dem, was in der Luft liegt ohne
direkt ausgesprochen zu werden oder was bewusst vor ihr
verborgen werden sollte. Ohne dass die Perspektive oder
Erzählsituation gesprengt wird, bekommt so auch der Leser
mit, was die Eltern im Nachbarzimmer sprechen oder die
Patienten in der Sprechstunde ihres Vaters (unvorsichtiger
Weise bei geöffnetem Fenster) oder die Passanten unter dem
Balkon. Vieles hört sie nur, ohne es richtig zu verstehen,
aber es hat sich in ihr Gedächtnis offenbar so tief
eingeprägt, dass sie es uns jetzt glaubwürdig wiedergeben
kann und jeder wird gleichsam dazu aufgefordert sich sein
eigenes Bild zu machen.
Eine lebendige Kleinstadt entsteht vor unserem Auge, wo
jeder von jedem weiß und alles betratscht wird, eine
liebevolle Milieubeschreibung, in der wir die Straßen,
Innenhofatmosphäre und Wohnsituation Hermannstadts, wie es
war und wie es ist, wieder erkennen. Das Neben- und
Miteinanderleben in oft beengten und in jener Zeit auch
noch politisch erschwerten Bedingungen wird nicht
beschönigt, sondern realistisch und humorvoll
wiedergegeben. So haben die Menschen damals überlebt. Und
wie leben wir heute? Was machen wir aus der gewonnenen
Freiheit? Das Buch lässt uns, nicht zuletzt durch seine
abschließende Geschichte, nicht nur zurück-, sondern auch
nach vorne blicken.
Gertrud Rehner-Braisch